Ein anderes Gefühl

Dr. Jacek Barski

Zeichnen im Raum

Diese Methode, die wesentlich darin bestand, mit durchdachten Zügen und Zugriffen dem Material quasi selbst zum Ausdruck zu verhelfen, sollte rasch durch die Realisationen von zahlreichen Installationen und Projekten zur Handschrift von Danuta Karsten werden. Das Hauptmerkmal dieser Handschrift bildete dabei die Entwicklung, die ausschließlich der Steigerung der Umsetzungsmodalitäten des künstlerischen Anliegens diente und nicht etwa dem späteren kommerziellen Erfolg.

Dadurch erreichte Danuta Karsten im Bezug auf die sich stets neu ergebenden Realisationen innerhalb verhältnismäßig kurzer Zeit eine innere Stabilität, deren erstaunlich konstanter Wert die Künstlerin in ihrem Schaffen immer unabhängiger gemacht hat.
Dies erlaubte auch bald, dass ihre neuen Installationen eine entsprechend hohe Sicherheit der künstlerischen Umsetzung vermittelten. Immer öfter war dabei zu beobachten, dass das einmal verwendete Material durch gezielte Verformungen und Wiederverwendungen in den aufeinander folgenden Installationen wieder mitbenutzt worden war. Aus Altem ist kontinuierlich Neues entstanden, ohne  dass das Material und Idee der vorherigen Arbeit aufgegeben werden mussten und ohne das Inhalte einen wesentlichen Bruch erleiden würden.
Eine innere Kontinuität im Werk von Danuta Karsten ist nicht nur anhand der Installationen unübersehbar geworden, sondern wurde zum Hauptmerkmal des sich damit im Werden befindlichen Gesamtwerkes. Es ist dabei das immer klarer geworden, was  später zum Gesetz werden sollte,  und zwar dass die Kunst von Danuta Karsten nicht fürs Depot gemacht wird und schon gar nicht wegen irgendeiner von außen aufgezwungenen Einordnung, sondern ausschließlich im Kontext ihres Gesamtwerkes, jeweils von der neusten Realisation her zu  sehen ist. Folglich ist bereits zu diesem Zeitpunkt der inneren Entwicklung der Künstlerin logischerweise genau diese Reife feststellbar, die zur Verdichtung eines im Werden begriffenen
Installationswerkes paradoxerweise unumgänglich ist: die Befreiung  von der Form.
Das Erreichen der künstlerischen inneren Stabilität und die Sicherheit der Umsetzung erlaubten ihr erstaunlicherweise genau diesen Schritt nachzuvollziehen, von dem die autonome Kunst überhaupt zu leben scheint. Nicht die Form an sich wird zum Mittelpunkt der Behandlung, sondern das, was ihr als künstlerische Idee zugrunde liegt. Um in einem solchen Bereich als Künstlerin frei handeln zu können, ist demzufolge eine deutliche Verlagerung des Schwerpunktes von der reinen Formbehandlung auf die umzusetzende Inhalte und schließlich auf das Innere der Künstlerin, was in einem Rückzug von der äußeren Form als Vordergründiges münden kann und im Fall des Werkes von Danuta Karsten auch geschieht.
Durch diese Verlagerung, die eine sichere Distanz zwischen der Künstlerin und ihren Werkzeugen schafft, kann nämlich erst erkannt werden, dass die Form als Gestaltungs- und Umsetzungselement der künstlerischen Idee unbelastet und im weitestem Sinne unabhängig eingesetzt werden kann, dass man erst mit diesem Schritt eine unverfälschte und ehrliche Basis für das sich an diesen Ideen orientierende Kunstschaffen gewinnen kann und - vor allem - dass dieses Kunstschaffen so fest im Leben verankert ist, dass man sich sogar eine solche Feststellung  erlauben kann, die, als sicheres Zeichnen  für Reife und Beständigkeit,  ausschließlich den „ etablierten" Künstler zugeschrieben wird: „unserer Lebenselement ist die ewige Unreife". 7

Um das zu erreichen, bedarf es manchmal eines langen Weges. Damit scheint jedoch die anfangs quasi natürliche Formabhängigkeit, um nicht zu sagen die   allgemein herrschende Formwirklichkeit zugunsten der eigenen Kunstauffassung außer Kraft gesetzt worden sein. Danuta Karsten tritt dementsprechend in die eigene Kunstwirklichkeit hinein, die, ist sie einmal ins Leben berufen worden, nicht nur gleich eigene Gesetze aufweist, sondern, was viel bedeutendere Folgen hat, unaufhebbar ist. Ihre Kunst beginnt an diesem Entwicklungspunkt autonom zu existieren, das heißt allerdings auch, dass sie sich von der Künstlerin unabhängig zu machen beginnt.
Nicht nur das jedoch ist der Preis für die  künstlerische Reife, sondern auch das, was die Künstlerin solange in ihrer Arbeit vergeblich gesucht hatte und womit sie jetzt unwiderruflich leben muss: die Einsamkeit im kreativen Prozess. Denn „sobald man den Kreis jener institutionalisierten Meinungen, die zwischen uns ebenso wenig aufgeteilt sind, wie die Madeleine oder Palais de Justice....einmal durchbrochen hat, und bei Wahrem, d.h. beim Unsichtbaren anlangt, scheint es viel eher so zu sein, dass von den Menschen jeder auf seinem Inselchen wohnt, ohne dass es einen Übergang vom einem zum anderen gäbe, und dass man sich wundert, wenn sie sich manchmal über etwas einig sind." 8

Damit hat Danuta Karsten das Feld erreicht, in dem man zwar als Künstlerin auf der Suche nach der einigen „unerträglichen Leichtigkeit des Seins" endlich frei handeln kann, gleichzeitig aber einen Bereich betreten, in dem man, mit sich allein, dazu gezwungen  ist, sich täglich in Frage zu stellen und sich täglich neu zu überprüfen, weil es eben keine Vergleichs- und Bezugspunkte gibt, außer der eigenen künstlerischen Arbeit. Ab sofort muss demnach folgendes für diese Arbeit gelten:
„Man erlebt alles unmittelbar, zum ersten Mal und ohne Vorbereitung.
Wie ein Schauspieler der auf die Bühne kommt, ohne vorher je geprobt zu haben. Was kann aber das Leben wert sein, wenn die erste Probe für das Leben selbst ist?
Aus diesem Grunde gleicht das Leben immer eine Skizze. Auch Skizze ist nicht das richtige Wort, weil Skizze immer ein Entwurf zu etwas ist, die Vorbereitung eines Bildes, während die Skizze unseres Lebens eine Skizze  von nichts ist, ein Entwurf ohne Bild"9
Genau das hat Danuta Karsten durch ihre Kunst erfahren, womit die Unsichtbarkeiten, die bei jeder künstlerischen Entwicklung auftreten,  endgültig  überwunden worden sind. Die Künstlerin kann sich jetzt frei den Inhalten ihres Werkes widmen, wohl bewusst, dass das Unsichtbare zur Wahrheit dieser Inhalte geworden ist und wohlwissend, dass sie jetzt endlich völlig selbständig dafür jedoch einsam die Bühne ohne Vergleichsmöglichkeiten betreten hat. Damit hat sie das Terrain erreicht, in dem sie zwar einerseits mit ihrer Kunst sich Gefahren der öffentlichen Person aussetzen muss, in dem sie aber anderseits - endlich! - ihre entschiedene Stärke uneingeschränkt  in Szene setzen kann: ihre künstlerische Sensibilität.

Lovis-Corinth-Preis 1998

7
Witold  Gombrowicz,  Ferdydurke,  Institut Litteraire S.A.R.L., Paris 1969, deutsche Ausgabe: München, Wien 1983,S. 109. Gombrowicz, der als polnischer Schriftsteller und Dramaturg in Argentinien und Südfrankreich tätig war, gilt als Erfinder des insbesondere in Existenzialismuszeit populär gewordenen „ falschen Romans", in dem Objekte konstruiert werden, die sich im Augenblick der Konstruktion selbst aufgeben zugunsten der darzustellenden Idee des Werkes.

8
Maurice Meleau- Pony,Le Visible et I'lnvisible E'ditions Gallimand, Paris 1996, Deutsch : Das Sichtbare und Unsichtbare, München 1986, S. 30

9
Milan Kundera, Nasenesitelna' lehkost byti, Paris 1984, deutsch: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins, München, Wien 1984, S. 11/12.