Wo sich das Auge verliert...

Ulrike Schick

Wie liest man ein Bild, das »Umgebung« ist? Wie begeht, wie erfährt man einen Bildraum, dessen Fragilität jegliche Berührung verbietet? Mit den Augen, nur mit den Augen, ist man versucht leichthin zu sagen - wie eben ein zweidimensionales Bild! Angesichts des Verwirrspiels, das Danuta Karsten betreibt, gerät so mancher Blick in Verzweiflung. Zu instabil ist das vermeintliche Chaos, zu vielfältig sind die Formen und Farben in Raum und Licht! Nur langsam, fast zögerlich, erklären sich Konturen, Volumina und Material. Der Ausstellungsraum wird durch eine Wendeltreppe von unten her betreten. Unverhofft entlarvt sich ein Standpunkt, von dem aus man das „Bild" zu lesen beginnt. Tausende von Papierspiralen an unsichtbaren Schnüren fallen vom Dach, hängen in unterschiedlichen Reihen und Höhen nach unten. Karsten hat das Innenvolumen des dreieckigen Daches spiegelverkehrt in den Raum gebracht. Dementsprechend verlängern sich die Spiralen von außen nach innen. Der in seiner Ausbreitung stark reduzierte, begehbare Bereich ermöglicht die unmittelbare Auseinandersetzung mit und in der eigenen körperlichen Bewegung. Im zögernden Abschreiten verliert sich das Auge im scheinbaren Chaos. Die Dichte und Schwere des Papiers, dem man gänzlich ausgeliefert ist, überwältigt Auge und Leib. Sukzessive, Schritt für Schritt, entschlüsselt sich die Fülle an Informationen. Man erkundet die geometrische Klarheit, mit der die einzelnen Bahnen angeordnet sind; findet Leere –und Zwischenräume, entdeckt das Ganze und in ihm das Einzelne. Das Auge entwirrt, löst auf, erklärt, gebietet dem nervösen Durcheinander Einhalt. Immer wieder gilt es zu enträtseln; Erfahrbarkeit ist ein Prozeß. Der Wechsel des Standpunktes wird zum Bestandteil der Arbeit. So fallen, von unten besehen, Kreise auf den Betrachter zu; im Durchblick wird die Architektur verschluckt wie von einer Schneelawine, der Blick durch den Papierwald scheint unmöglich. Raum wie Distanzen werden neu definiert oder in Frage gestellt. Eine Vielfalt von Informationen schwebt im Raum: von dem Materialwert des Papiers und seiner Farbe, über das Licht bis hin zur Luft, die, omnipräsent, den Raum und sein Innenleben zum Schwingen bringt. Leichtigkeit und Schwere sind vereint im Miteinander der Spiralen. Hin- und hergerissen zwischen dem Ganzen und dem Einzelnen, gibt es keinen Halt für das Auge! Immer ist alles in Bewegung! Je nach der Beleuchtungssituation erfährt die Arbeit eine neue Qualität. Fällt das Licht von oben, glühen die Papiere in ihrem Fall nach unten in den unter schiedlichsten Weiß- bis Grauwerten. Gleitet das Licht von allen Seiten über die Papiere, quasi in einem All-Over, tritt die einzelne Spirale zurück, glüht alles in homogenem Weiß. Entfernungen sind durch die Quantität nicht mehr ablesbar. Hier dominiert ein malerisches Moment, dort ein grafisches, lineares. Mit jedem neuen Standpunkt, mit jeder neuen Lichtquelle, ändern sich auch die Assoziationen, die mit der Arbeit verbunden sind. Selbstredend haben sie alle mit ihrer Farbigkeit, dem Weiß, zu tun aber auch mit dem Phänomen von Zeitlichkeit. Ob Schneefall oder Gischt, nichts erinnert an Dauer, nichts bleibt. Die Prozeßhaftigkeit im Arbeitsprozeß selbst vermittelt sich auch in der Wahrnehmung. Die Leiblichkeit des Ganzen, der „örper"der Installation, löst sich beim Durchblicken auf. Danuta Karsten vergleicht das Schneiden der Papiere mit Aufzeichnungen in einem Tagebuch. Den Prozeß, die Regelmäßigkeit des Schneidens als Wert, setzt sie dem des Schreibens gleich. Fast meditativ in ihrer Wiederholung entstanden so die Spiralen, begleiteten sie über 3 Monate im Alltag. In der unmittelbaren Umsetzung der Arbeit, ihrer Hängung, nimmt sie die gleichen Momente auf. Alles bleibt, so wie es sich verändert –in Realität, wie Erinnerung.

Die Künstlerin schuf ein Werk, das Raum wird; ein Miteinander, das sich gegenseitig bedingt, in Volumen und Leichtigkeit, Transparenz und Dichte, Licht und Schatten. Sie vereinigt Ruhe und Unruhe, erzählt und kann doch schweigen.